Ein Blick auf die Hände verrät viel über einen Menschen und seine Vergangenheit. Bei Tommy Caldwell fällt der fehlende linke Zeigefinger unausweichlich auf – bei einem Profikletterer von seinem Kaliber eigentlich kaum vorstellbar. Denn mit der Erstbegehung der “Dawn Wall” im Yosemite-Nationalpark gelang dem heute 39-Jährigen gemeinsam mit Kevin Jorgeson die weltweit schwerste Mehrseillänge und ein Meilenstein der Klettergeschichte. Eine vertikale Wand über 1000 Meter mit 32 Seillängen bis zum Gipfel über blanken Fels.
Panik habe sich damals in ihm breitgemacht, als er mit 23 Jahren bei Renovierungsarbeiten mit der Tischkreissäge abrutschte und die bereits erfolgreiche Kletterkarriere schlagartig auf dem Spiel stand. Die Ärzte prognostizierten das Ende der noch jungen Laufbahn. Doch der ehrgeizige Athlet aus Colorado trainierte wie besessen, um schließlich sogar stärker als zuvor zurückzukehren.
Nur ein Jahr vor dem Unfall war er mit drei weiteren Landsleuten auf einer Expedition in Kirgisistan als Geisel von Extremisten in Gefangenschaft geraten. Sie konnten nach sechs Tagen fliehen, weil Caldwell einen der Bewacher an einem Abgrund in die Tiefe stieß. Durchlebte Todesängste und Selbstvorwürfe, einen der Geiselnehmer offensichtlich getötet zu haben, blieben bei ihm lange präsent. Solche Erlebnisse hinterlassen Spuren. Erlebnisse wie diese aus der Vergangenheit erklären die Besessenheit, mit der er über einen Zeitraum von sieben Jahren am El Capitan sein Lebensprojekt verwirklichte.
Tommy, wie kam es zur Idee, die Dawn Wall zu klettern?
Ich klettere inzwischen seit 25 Jahren am El Capitan. In der Zeit bin ich alle existierenden Routen x-mal geklettert, kenne quasi jeden Spalt, jeden Riss. Irgendwann kam der Moment, in dem ich mich gefragt habe, wie viel für mich im Valley noch möglich wäre. Und weil ich so viel Erfahrung mit diesem Felsen hatte, war ich wahrscheinlich der einzige Mensch, der beurteilen konnte, dass die spiegelglatte Struktur der Dawn Wall, die für jeden anderen als unbezwingbar galt, vielleicht doch geklettert werden könnte. Also fing ich an, nach einer Route zu suchen. Irgendwann kam Kevin dazu und schloss sich dem Vorhaben an.
Was hat dich über so viele Jahre hinweg angetrieben?
Am Anfang war es nur eine Wunschvorstellung herauszufinden, ob man an dieser Wand überhaupt klettern kann. Dann musste ich durch eine Scheidung, und der Gedanke an die Dawn Wall half mir, den Verlust und Schmerz besser zu verkraften. Das führte im Anschluss wieder zu der Idee, dass an dieser Wand womöglich mehr machbar wäre, als man denkt. Es gibt zu Beginn des Films eine Sequenz über Kirgisistan – wir wurden dort von militanten Islamisten entführt. Während dieser Geiselnahme bewältigte ich Situationen, die ich mir bis dahin niemals zugetraut hätte. Dadurch wurde mir auch klar, dass wir Menschen viel mehr können, als wir glauben. Jedenfalls mehr, als im normalen Alltag von uns verlangt wird. Seitdem war ich neugierig, was ich noch alles kann, und die Dawn Wall feuerte diese Neugier noch weiter an.
Kannst du uns beschreiben, wie ein Tag in der Wand aussieht – vom Aufstehen bis zum Schlafengehen?
Normalerweise geht Big-Wall-Klettern so: Man steht in der Morgendämmerung auf und klettert den ganzen Tag, bis es wieder dunkel wird. Die Dawn Wall ist da völlig anders: Um dort zu klettern, brauchst du die besten Bedingungen, und das bedeutet: Kälte. Wenn es heiß ist, sind die Fingerspitzen weich und gehen leichter kaputt, auch der Gummi an den Schuhen nutzt sich viel schneller ab. Also mussten wir warten, bis es kühl genug war, was oft dazu führte, dass wir erst nachts klettern konnten. Unser Tagesablauf war also ziemlich seltsam. Wir wachten mit der Sonne auf – es gibt an der Wand keinen Schatten, und in der knallenden Sonne kann man unmöglich schlafen – somit waren wir wach und lungerten den ganzen Tag im Portaledge herum, bis die Sonne nicht mehr auf die Wand schien. Das war gegen 17 Uhr, von da an kletterten wir bis 1 Uhr nachts, die meiste Zeit mit Stirnlampen. Aber es war eine gute Kombination: Tagsüber konnten wir den beeindruckenden Spot genießen, uns unterhalten und herumblödeln. Am Abend wurde es dann ernst und wir verbrachten etliche Stunden in voller Konzentration.