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Sideways | Was Polynesiens erste Surfer mit heutigem Bordsport verbindet

Ein Augenzeugenbericht dokumentierte im Jahr 1777 erstmals schriftlich eine Form des Surfens

Autor: Matt Barr

Eines Abends im Sommer des Jahres 1777 setzte sich William Anderson an seinen Schreibtisch in der Kajüte, um seine täglichen Beobachtungen zu Papier zu bringen. Der schottische Naturforscher und Chirurg hatte an Bord der HMS Resolution angeheuert, dem Flaggschiff unter dem Kommando von Kapitän James Cook. Die Flotte lag vor einem aus 14 Inseln bestehenden Archipel im südlichen Pazifischen Ozean, von der Expedition „The Society Islands“ getauft.

Den Aufzeichnungen zufolge scheint es ein ungewöhnlich anregender Tag für Anderson gewesen zu sein. Als Augenzeuge eines kurios anmutenden Verhaltens unter den Einheimischen setzte er sich nun daran, sein offenbar eindrucksvolles Erlebnis für die Nachwelt festzuhalten.

„Er saß beinahe reglos da und wurde von der Welle mitgenommen, bis sie ihn auf den Strand spülte“

„Der Mann startete vom Strand aus ins Wasser, bis er ungefähr an den Punkt gelangte, an dem sich die Dünung auftürmte. Dann paddelte er mit unnachahmlicher Präzision von einer bestimmten Position auf der Welle in Strandrichtung, um sich in seinem Kanu von ihr tragen zu lassen, ohne dass die Brandung dabei unter ihm hindurchrauschte. Er saß beinahe reglos da und wurde von der Welle mitgenommen, bis sie ihn auf den Strand spülte. Dann machte er sich erneut auf den Weg zurück und suchte nach einer weiteren Welle.“

Was Anderson seinerzeit beobachtet hatte, war eine frühe Form des Surfens.

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Kanoa Igarashi in Hawaii | Credit: Trevor Moran / Red Bull Content Pool

Wie sein darauf folgender Satz durchblicken lässt, war das, was er an diesem Tag tatsächlich zum ersten Mal schriftlich festhielt, das beschriebene Vorwärtsgleiten – jenes spezielle Phänomen, bekannt in allen Boardsportarten, bei dem das sensorische Vergnügen aus der fast mühelosen, fast reibungsfreien Fortbewegung entsteht: „Ich muss daraus eindeutig schlussfolgern, dass der Mann die höchste Freude empfand, während er sich scheinbar im Einklang mit dem Meer vorantreiben ließ.“

250 Jahre später stellt diese Begegnung zweier fremder Kulturen sogar ein einschneidendes Ereignis dar, selbst wenn man es nicht nur aus der Perspektive des Bordsports betrachtet.

„Ich muss daraus eindeutig schließen, dass dieser Mann die höchste Freude empfand, während er sich im Einklang mit dem Meer vorantreiben ließ“

Es klingt fast pathetisch, solche frühen Augenzeugenberichte tatsächlich als kulturell bedeutend einzuordnen. Doch es ist wahr. Laut Simon Schaffer, Professor für Wissenschaftsgeschichte an der University of Cambridge, liegt die zentrale Bedeutung der Cook-Reisen darin, dass „die Begegnung zwischen zwei der wirklich großen maritimen Zivilisationen unseres Planeten, der des Nordatlantiks und der Polynesiens, eine außerordentliche sowie dramatische Veränderung unseres Wissens über die Welt bewirkt hat“.

Julian Wilson an der North Shore von Oahu | Credit: Trevor Moran / Red Bull Content Pool

Warum sollte auch die erste aufgezeichnete Begegnung der westlichen Welt mit der polynesischen Subkultur des Surfens – jemand, der die Kraft der Wellen zu seinem persönlichen Vergnügen nutzt – als wenig bedeutsam eingeschätzt werden?

Schauen wir einfach auf die Fakten. Im Jahr 2013 schätzte der Verband der europäischen Surfindustrie den weltweiten Boardsportmarkt auf satte 37,2 Milliarden Euro, was zu der Zeit etwa 15 Prozent des gesamten Sportmarktes entsprach.

Und die eigentliche Sensation im Kern dieser Industrie? Dasselbe undefinierte Gefühl, das den namenlosen Polynesier dazu verleitete, Wellen zu reiten, zieht auch heutzutage noch Surfer, Snowboarder, Skateboarder und Co. in seinen Bann.

Autor Matt Barr beim Surfen in Neuseeland. | Credit: All Conditions Media

Es erscheint kompliziert, ein schwer zu beschreibendes Gefühl genauer zu analysieren. Ist es ein Manöver? Ist es eine Art natürlicher Rausch, den etwa ein Snowboarder empfindet, der einen Tiefschneehang einweiht? Wird durch die empfundene Schwerelosigkeit sogar kurzzeitig der ursprüngliche Schwebezustand reproduziert, den jeder Mensch im pränatalen Zustand neun Monate lang durchlebt?

Oder bezeichnet es ein Hochgefühl, das dieses Erlebnis des seitwärts Gleitens zu einer meist lebenslangen Sucht macht? Vielleicht ist es nicht komplizierter als die Tatsache, dass das Surfen entlang einer Welle oder durch Pulverschnee an einem Berghang einen kaum zu übertreffenden Spaßfaktor ausmachen.

Die Wahrheit – und das Mysterium – dieses Zustands ist, dass ihn jeder unterschiedlich empfindet und er doch letztlich für alle gleich ist. Ein Hobbysurfer in hüfthohen Wellen wird ihn anders erleben als ein Mick Fanning in perfekten Barrels. Dennoch werden sie Ähnliches wahrnehmen und sind beide Jünger ihrer Glückshormone.

Das Suchtelement ist nicht zu unterschätzen. Man denke an die frühen polynesischen Pioniere, die auf handgefertigten Kanus schon nicht genug davon bekommen konnten, oder an die ersten Skateboarder, die in trockengelegten Swimmingpools Surfen imitieren wollten, und an die frühen Snowboarder, die sich bis heute glorifizierte Snurfer für den Hang bauten.

Mit der Shortboard-Revolution und daraus folgender Trick-Evolution rückte das Basiselement für fast zwei Jahrzehnte lang in den Hintergrund, aber generell ist heutzutage eine Rückbesinnung erkennbar. Ein Blick etwa auf die unzähligen und beliebten Retro-Shapes beim Surfen und Snowboarden zeigt die nächste Etappe einer langsamen reflektierenden Rückkehr zu den Wurzeln und der simple „Glide“ wieder seinen rechtmäßigen Platz unter all den anderen Ausläufern einer vielfältigen Boardsportkultur einnimmt. Denn vereint sind sie alle durch das Phänomen, das schon William Anderson 1771 in Polynesien beobachten konnte.

Cover: Domenic Mosqueira / Red Bull Content Pool

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