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Interview mit Dr. Erich Ritter | Mehr Hai-Unfälle in Pandemie-Zeiten

Während der Coronakrise steigt die Anzahl der Meldungen über Surfer, die von Haien tödlich verletzt wurden. "Da könnte ein Zusammenhang bestehen", sagt Hai-Verhaltensforscher Dr. Erich Ritter.


Kurz nach dem Interview mit Dr. Erich Ritter erreichte uns die traurige Nachricht vom plötzlichen Tod des weltweit geschätzten Hai-Experten. Wir möchten allen Angehörigen und Freunden unser aufrichtiges Beileid aussprechen.
Die Erkenntnisse aus seiner intensiven Forschungsarbeit werden die Zeit überdauern und als essentielle Basis für zukünftige Generationen dienen.


Das Video eines US-amerikanischen Polizisten, der ein Kleinkind vor einem Hai rettet, ging diese Woche viral. Wenige Tage zuvor machte ein 10-jähriger Australier Schlagzeilen, der von einem Fischerboot gezogen und schwer verletzt wurde. Der Junge überlebte – im Gegensatz zu einem 15-jährigen Surfer, der sechs Tage zuvor an der Ostküste Australiens starb. Im gleichen Bundesstaat erlag bereits im Juli der 60-jährige Rob Pedretti seinen Verletzungen. Genauso wie Matthew Tratt vor Fraser Island, Ben Kelly vor Kalifornien oder Zach Robba (Great Barrier Reef).

Diese und weitere Meldungen gingen alle nach Ausbruch der Corona-Pandemie um die Welt und erwecken den Anschein, als würde die Zahl der Hai-Unfälle in den vergangenen Wochen stetig ansteigen. Die interaktive Karte von Tracking Sharks soll sämtliche Zusammenstöße von Menschen und Haien in diesem Jahr dokumentieren. Bis zum 17. Juli wurden dort 29 “Angriffe” markiert. Viele davon seit Mai 2020.

“Es ist leider so, dass die Medien nur mitteilen wollen, dass es wieder geschehen ist, aber nicht warum”, kritisiert der Schweizer Biologe und Verhaltensforscher von Haien, Dr. Erich Ritter, die Berichterstattung. Ritter leitet das Shark Education and Research Center “Shark School” auf den Bahamas. Der renommierte und weltweit anerkannte Spezialist für Hai-Mensch-Interaktion sieht nichts Ungewöhnliches in den vergangenen Vorfällen. “Die einzelnen Unfälle zeigen keine Veränderungen zu anderen Unfällen in den gleichen Regionen in den Jahren zuvor”, sagt er. Im Surfers-Interview ordnet er die Hai-Unfälle der letzten Wochen ein, gibt Tipps, wie man sich an betroffenen Stränden verhalten soll, und schlägt ein Gesetz vor, das “Rufmord an Tieren” verhindern soll.


Interview mit Dr. Erich Ritter


Haiangriffe oder Surfunfälle: Was ist die treffendere Bezeichnung und warum?
Der Ausdruck “Angriff” geht von einem bewussten Vorsatz des Verletzens oder Tötens aus, was bei Haien jedoch nie der Fall ist. Haie wollen Menschen nicht verletzten oder gar töten, doch durch das Benutzen der Zähne beim Kontakt kann dies leider geschehen. “Unfall” ist die korrekte Bezeichnung.

In den vergangenen Monaten gab es beinahe wöchentlich Meldungen über Surfer und Taucher, die vor Australien und den USA von Haien tödlich verletzt wurden. Wie ordnen Sie diese Meldungen ein?
Diese Meldungen sind wie immer stark anti-hai geschrieben und widerspiegeln in keinster Weise, wie man sachlich über solche Unfälle berichten sollte. Es ist leider so, dass die Medien nur mitteilen wollen, dass es wieder geschehen ist, aber nicht, warum. Ich bin der starken Überzeugung, dass es ein Gesetz geben müsste, welches auch Rufmord an Tieren strafbar macht. Damit will ich Haie nicht in Schutz nehmen, aber ich bin der Überzeugung, dass ein Unfall so neutral wie möglich beschrieben werden sollte, um das Bild des Ereignisses nicht weiter zu verfälschen. Haie tun, was für sie natürlich ist, und unser Eindringen in ihren Lebensraum muss deren Regeln akzeptieren.

Sie erforschen das Verhalten der Haie. Was sagen die vergangenen Unfälle über den Zustand der Raubfische vor Australien aus?
Die einzelnen Unfälle zeigen keine Veränderungen zu anderen Unfällen in den gleichen Regionen in den Jahren zuvor.

“Es sind nicht nur die Haie, die verdrängt wurden, sondern ganze Nahrungsketten.”

Laut Statista nahm die Zahl der Hai-Angriffe in den vergangen Jahren eher ab. Woran liegt der plötzliche Anstieg im Sommer 2020?
In der ersten Phase von Corona hatten wir einen klaren Einbruch der Unfälle im Vergleich zu den letzten zehn Jahren in den gleichen Monaten. Durch die starke Zunahme von Badenden nach den Lockerungen, und auch dass die Haie sich in Regionen, die sie für Jahre nicht mehr bevölkerten, weil sie vertrieben wurden, nun vermehrt wieder an Ufern befinden, scheint zum Anstieg beigetragen zu haben. Doch sind es natürlich nicht nur die Haie, die verdrängt wurden, sondern ganze Nahrungsketten.

Der Rückzug des Menschen aus dem Ozean aufgrund der Corona-Pandemie hat also für neue Verhältnisse gesorgt?
Es ist zwar nur eine Vermutung, aber ich denke, dass hier ein zumindest indirekter Zusammenhang besteht. Die menschliche Präsenz hat ganze Nahrungsketten vom Ufer verscheucht und an oberster Stelle stehen ja die Haie. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Unfälle in wenig besiedelten Regionen geschehen oder nicht, der Effekt ist flächendeckend.

erich ritter
Hai-Experte und -Verhaltensforscher Dr. Erich Ritter.

“Surfer sollten sich Hai-sensibler geben.”

Würden Sie Surfern abraten, derzeit an den betroffenen Stränden ins Wasser zu gehen?
Ich würde es den Surfern nicht abraten, dort nicht mehr zu surfen, doch rate ich jedem – auch wenn keine Unfälle in der Region gemeldet werden –, sich Hai-sensibler zu geben, sich permanent umzuschauen und sich Orte zu suchen, wo man sich beim Warten auf die Welle über einem Sandboden befindet, um die Ankunft von Haien leichter auszumachen. Es steht auch außer Frage, dass man nicht in der Nähe von Regionen surft, wo die Wahrscheinlichkeit der Haie erhöht ist wie beispielsweise in der Nähe von Flüssen, Ohrenrobben, Kelpwäldern, Abflussrohren.

Was kann man tun, wenn man sich permanent umschaut und dann wirklich einen Hai entdeckt?
Wenn man einen Hai sieht oder beim plötzlichem Auftauchen von Schwarmfischen sollte man langsam vom Brett steigen, sich vertikal im Wasser positionieren und mit einer Hand das Brett stabilisieren. Sieht man den Hai, dreht man sich langsam mit dem Tier, indem man die Beine hängen lässt und sich nur mit dem freien Arm bewegt. Ist der Hai wieder verschwunden, bleibt man in der gleichen Position, steigt dann wieder aufs Brett und paddelt langsam zum Ufer, wobei die Beine nicht (!) wieder im Wasser positioniert werden und keinem Antrieb mehr dienen.

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