In Skardu trafen wir auch unseren Guide für die nächsten zwei Wochen: Isaak, 60 Jahre alt, mit rauschendem Vollbart. Gemeinsam mit ihm wurden Details der Reise besprochen. Noch nie hatte er Radfahrer auf dem Trek gesehen. Auf unsere Nachfrage, ob er denke, Mountainbiken sei dort möglich, erhielten wir die Auskunft: „ Ja, schon möglich. Inshallah!“ Übersetzt bedeutet es so viel wie: „So Gott will.“ Wir gewöhnten uns schnell an diese Gottgefälligkeit der gläubigen Muslime hier vor Ort. Es relativiert viele Dinge, deren Ausgang man eh nicht vorhersehen kann. Darüber hinaus erkundigten wir uns bei Touristen, welche gerade zurück aus den Bergen waren, über ihre Einschätzung der Bedingungen. Wir hörten die ganze Palette an Möglichkeiten. Von „wir steckten hüfthoch im Schnee“, bis „ihr könnt sicher 70% fahren“ war Alles dabei. Was sollten wir dazu sagen, außer: „Inshallah“!
Zwei Tage fuhren wir anschließend mit einem Jeep zum Startpunkt unserer Mountainbikerunde, dem kleinen Ort Hushe. Jakob wurde hier leider von einem Magen-Darmvirus heimgesucht und lag flach. Ich rollte mit dem Bike durch das Dorf und wurde innerhalb von Minuten zur Hauptattraktion. Die mir nachlaufende Traube von Kindern motivierte mich in meinen Künsten des Trialsports zu kramen. Als ich begann auf Vorder- und Hinterrad zu hüpfen, Stufen rauf und runter zu springen, gab es kein Halten mehr in der Menge. Applaus, lautes Anfeuern und unzählige, auf mich gerichtete Handykameras. Noch selten hatte ich ein so begeistertes Publikum.
Wir waren froh unsere Zelte im Garten eines sogenannten „Guesthouses“ als Schlafstätte aufgebaut zu wissen. Denn das Haus war extrem schmutzig und wir hätte die Nächte dort nicht verbringen wollen. Der eigene Schlafsack war uns hier lieber. Im dicht bepflanzten Garten trafen wir am Abend die restlichen Teilnehmer der Mannschaft. Fünf weitere Personen waren Teil unserer kleinen Reisegruppe: vier Träger und ein Koch. Allesamt machten sie auf uns einen freundlichen und extrem sportlichen Eindruck. Das Gepäck wurde gewogen und gleichmäßig verteilt.
Jakob ging es am nächsten Morgen zum Glück besser und so konnten wir uns auf die erste Etappe unserer Expedition begeben. Bis zum höchsten Punkt unserer Tour, dem „Gondogor La“ mit 5650m, hatten wir von hier fünf Tage eingeplant. Das Hauptaugenmerk meiner Planung lag auf der Akklimatisation. Um erfolgreich über den Pass steigen zu können, mussten wir uns langsam an die Höhe anpassen und vor dem entscheidenden Tag topfit sein. Dementsprechend fuhren wir gemächlich aus dem Ort hinaus und genossen die ersten Meter auf unseren Rädern. Überraschenderweise war der Weg flach angelegt und teilweise sogar von Steinen befreit worden. So konnten wir viel Zeit im Sattel verbringen und bergauf radeln. Die Berge ragten steil wie Pfeilspitzen um uns in den Himmel. Wo wir auch hinblickten, mussten wir den Kopf in den Nacken legen, um die Gipfel der Granitriesen sehen zu können. Beeindruckend.
Im ersten Camp auf 3600m verbrachten wir zwei Nächte, um uns an die Höhe zu gewöhnen. So konnte auch Jakob weiter genesen. Tagsüber war es unerwartet heiß und die Luft extrem trocken. Selbst auf dieser Höhe gab es dichte Vegetation und sogar Bäume. Um der Hitze zu entgehen, starteten wir am dritten Tag bereits um 5.30Uhr morgens zu unserer nächsten Teilstrecke. An Fahren war hier nicht mehr zu denken. Wir legten die Bikes auf unsere Rucksäcke. Der Pfad führte zu Beginn steil auf eine Gletschermoräne hinauf. Oben wurde es flacher, wir konnten schieben, und arbeiteten uns Stück für Stück weiter empor. Vor uns ragte der 7800m hohe „Masherbrum“ in den strahlend blauen Himmel. Zu unserer Linken lag der schuttbedeckte Gletscher. Auf 4100m erreichten wir die bereits errichteten, leuchtend gelben Zelte und wurden herzlichst empfangen. Die Träger liefen um vieles schneller als wir, im Schnitt brauchten sie nur die Hälfte unserer Zeit. Die jungen Männer waren unglaublich fit, stets gut gelaunt und für jeden Scherz zu begeistern. Auch wenn sie praktisch kein Englisch sprachen, fanden wir immer einen Weg mit ihnen zu kommunizieren und Spaß zu haben. So auch an diesem Abend.
Erneut früher Aufbruch zum Camp vor dem Pass am nächsten Morgen. Auf unsere Frage hin, wie der Weg beschaffen sei, bekamen wir von Isaak, mit einem breiten Grinsen, die uns vom Vortag bereits bekannte Auskunft: „Too easy. No problem. Little biking.“ Nachdem wir aber etwa acht Stunden lang unsere Bikes über einen Gletscher geschoben und getragen hatten, erreichten wir ziemlich müde das Camp auf 4600m. Erschöpft blickten wir zu Isaak. Auf unsere Anmerkung, dass es heute gar nicht so easy war, erhielten wir mit erneutem Grinsen die aufklärende Antwort: „This is no city, this is mountain adventure.“ Auch wir konnten uns ein Lächeln nicht verkneifen. Für den Rest der Tour sollte das unser Mantra werden: Wir sind nicht in der Stadt. Das ist ein Bergabenteuer! Wir wollten es ja so.
Vor uns lagen nun noch über 1000hm zur Passhöhe. Um nicht den gesamten Aufstieg mit dem zusätzlichen Gewicht der Räder am Rucksack auf einmal bewältigen zu müssen, nutzten wir den kommenden Tag, um diese auf 5000m zu deponieren. Ziemlich erschöpft kehrten wir am Nachmittag wieder zurück zu den Zelten. Spannung lag in der Luft. Wird es uns morgen gelingen, mit den Rädern den Pass zu erreichen? In diesem Moment fühlten wir uns gar nicht danach.
Am nächsten Tag packten wir euphorisch unsere Ausrüstung und schmiedeten Pläne: Startzeit heute Abend 21Uhr. Dann die Nacht durchlaufen und um etwa 5Uhr morgens die Passhöhe erreichen, bevor die Gruppen von der anderen Seite sich an den dort installierten Fixseilen nach unten bewegten und uns lose Steine auf den Kopf werfen konnten. Sicherheit geht vor Schlaf. Für den Weiterweg zum nächsten Lager rechneten wir mit vier Stunden. Die Ausrüstung war durchaus über dem Standard einer klassischen Moutainbiketour: Warme Bekleidung für bis zu -15Grad, dicke Bergschuhe, Steigeisen, Wanderstöcke, Stirnlampe, Klettergurt und eine Steigklemme, damit wir uns in den Fixseilen einhängen konnten, um nicht abzustürzen. Das Briefing von Isaak, zu der vor uns liegenden Strecke, fiel heute überraschend aus. Statt des sonst freundlichen „Too easy“ bekamen wir mit ernster Miene die Auskunft: „Not easy. Little hard. But, Inshalla, you can do it.“ Verunsichert sahen wir uns an.
Pünktlich wie geplant, starteten wir dick eingepackt, begleitet von tausenden Sternen. Als wir die Bikes um Mitternacht auf die Rucksäcke luden hatte jeder über 20kg Gepäck. Wir stapften langsam und schwer atmend durch die Nacht. Außer unseren eigenen Geräuschen herrschte absolute Stille. Das Gelände wurde immer steiler. Bald war der Untergrund noch dazu vereist. Unsere Steigeisen kamen zum Einsatz. Kurz darauf erreichten wir die Fixseile. Wie ein Geländer schlängelten sie sich nach oben in die finstere Nacht. Wir waren erleichtert uns hier sichern zu können: Klettergurt anziehen, Steigklemme einhängen und weiter ging es. Schritt für Schritt. Langsam. Sehr langsam. Zwischendurch gab es senkrechte Abschnitte, welche wir ohne die Seile sicher nicht hätten überwinden können. Das Gewicht der Räder lastete schwer auf unseren Schultern. Es wurde immer anstrengender, doch wir zogen uns weiter hinauf. Die Zeit kam uns endlos vor, als der Horizont endlich aufhellte und das Gelände flacher wurde. Schließlich waren die ersten Bergsteiger und Träger im Abstieg und kamen uns entgegen. Fragwürdige Blicke trafen uns. Gegen 5 Uhr morgens erreichten wir völlig ausgelaugt die Passhöhe auf 5650m. Wir fielen uns in die Arme. Der „Gondogoro La“ erstreckte sich vor uns in seiner weißen Pracht. Wir hatten es wirklich geschafft! Die aufsteigende Sonne wurde kräftiger und wärmte unsere durchgefrorenen Körper. Wir gossen uns eine Tasse heißen Tee ein und genossen überwältigt die grandiose Aussicht. Vier der 14 Berge über 8000 Meter standen in strahlendem Weiß vor uns: Gasherbrum 1 & 2, Broad Peak und der K2.
Leider mussten wir bald schon wieder aufbrechen, denn der Abstieg war noch lang. Wir traten in die Pedale und fuhren los. Nach 300 Metern war die Abfahrt aber bereits wieder vorbei: Erneut Fixseile. Durch Gletscherspalten hindurch schlängelte sich die seilversicherte Steigspur bergab in ein riesiges Gletscherbecken. Die Bikes schiebend stiegen wir vorsichtig hinunter. Bis zum „Camp Ali“, welches wir um 11 Uhr erreichten, fuhren wir keinen Meter mehr. Der Schnee war zu weich geworden in der Hitze des Tages. Zwischendurch brachen wir bis zur Hüfte ein. Das Vorankommen war eine Qual.