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BMX

Aaron „Wheelz“ Fotheringham im Interview | „Es ist ein Rollstuhl, kein Gefängnis“

Wir haben in London mit dem Star vom Nitro Circus über Glauben, Ikonen und seinen Status als Superstar gesprochen

„Ich habe dieses Vorurteil satt. Man sitzt in einem Rollstuhl, das ist kein Gefängnis!“ Es ist ein Statement, mit dem meine Erwartungen, meine Angst bestätigt werden. Aaron Fotheringham ist kein „anderer“ – ihn so abzustempeln, wäre falsch und plump.

Es ist ein schöner, entspannter Nachmittag in London. Ich sitze in einer Hotellobby und rede mit dem Mann, den viele nur unter dem Spitznamen „Wheelz“ kennen. Er ist einer der Stars im Team vom Nitro Circus und mit Haudegen wie Travis Pastrana und Ryan Williams unterwegs bei den weltweiten Shows. Die Views seiner Youtube-Videos gehen mittlerweile locker in die Hundertausende. Er ist berühmt geworden als Erfinder, auf vielen unterschiedlichen Wegen ein charismatischer Superstar. Und Aaron fährt mit dem Rollstuhl, nicht im Rollstuhl.

Geboren mit einem Defekt, der den Spinalkanal entscheidend beeinflusst, konnte „Wheelz“ seine Beine nie einsetzen. Es ist eine Körperbehinderung, über die fast kein Forscher etwas weiß. „Ich habe ein bisschen darüber gehört, was passiert oder was die Krankheit mit mir macht“, erklärt er, als ich ihn frage, was genau das für eine Krankheit sei. „Es bin einfach ich. Ich habe mich nie wirklich damit beschäftigt. Es ist einfach schon immer normal für mich, also habe ich mich auch nie eingehender damit beschäftigt.“

Es kommt mir so vor, als ob das wie eine typische Antwort von dem Athleten klingt, der sich nur wenig mit dieser Einschränkung beschäftigt. Der 24-Jährige tritt als Gleichgestellter absolut glücklich und bescheiden auf – extrem weit entfernt von manch anderen Charakteren beim Nitro Circus, wie zum Beispiel Ringleader Travis Pastrana. „Wheelz“ hat schon einen halben Tag vollgepackt mit Interviews hinter sich und ich habe das Gefühl, dass er den Trubel um sich herum nicht wirklich nachvollziehen kann.

„In der Schule wurde ich gehänselt…“

Die Kindheit hat ihn vielleicht seine Bodenständigkeit gelehrt. Als eines von sechs Kindern in seiner Familie wuchs er in Las Vegas auf und hatte stets genau das gleiche Standing wie seine fünf Geschwister. „Meine Eltern behandelten mich wie jedes andere Kind der Familie auch“, erzählt er: „Wenn ich nach einem Glas Wasser gefragt habe, dann bekam ich die Antwort, dass ich es mir selbst holen kann“.

Wurde er in der Schule aufgrund seines Handicaps gehänselt? „In der Schule wurde ich von einigen geärgert, doch ich hatte doppelt so viele Kinder, die mich unterstützten.“ Ich kann während des Interviews Parallelen zu meiner Kindheit entdecken.

Ich wundere mich wie jemand, der ein so normales Leben führte, auf einmal zum Superstar wird. Vielleicht ist es das. Vielleicht ist es falsch, „Wheelz“ als ein Superstar zu bezeichnen. Ist die Suche nach etwas Speziellem, etwas Einzigartigem ein Problem meiner eigenen Wahrnehmung?

„In der Schule wolten sie mich in spezielle Kurse stecken“, erklärt Fotheringham, „was meine Familie und ich jedoch kategorisch ablehnten. Ich wollte immer den regulären Unterricht mitmachen, denn dort saßen ja auch alle meine Freunde. Das ist auch der Grund warum ich den Skatepark so mag – weil ich dort nie anders behandelt wurde.“

„Ich habe einen älteren Bruder, der als BMXer und Skater viele Formen von Actionsport im Sinn hatte. Ich fuhr dann mit zum Skatepark, um eigentlich einfach nur zuzuschauen, während er im Park Tricks lernte.“

Langsam beginne ich zu verstehen, dass „Wheelz“ der Welt demonstriert, dass er eine Fähigkeit und nicht nur eine Behinderung hat. „Eines Tages meinte mein Bruder zu mir, dass es cool sei, wenn ich auch mal mit meinem Rollstuhl im Park fahren würde und fragte, ob ich es probieren will.“ Mein Vater war auch an dem Tag dabei, er gab mir das Go und half mir, meinen Rollstuhl auf eine vier Fuß hohe Quarterpipe zu stemmen. Dann machte ich einen Drop-In und stürzte hart, mehrere Male.“

„Irgendwann konnte ich den Drop-In vollenden und war nur noch happy“, erzählt er mit einem Lachen, als er sich an diesen denkwürdigen Moment erinnert.

„Ich hatte diesen Rollstuhl gerade einmal neun Monate und schrottete ihn“

Während Aarons Vater ihm sofort die volle Unterstützung für seine neue Leidenschaft zusagte, interessiert mich, was seine Mutter dazu meinte.

„Meine Eltern waren schon ziemlich nervös, denn sie wollten natürlich nicht, dass ich mich verletze. Doch sie wussten, dass sie ihrem Sohn keine Grenzen setzen können und dass er seine Träume verfolgen, Spaß haben und einfach glücklich leben sollte. Das einzige Problem kam auf, als ich meinen ersten Rollstuhl zerlegte.“

„Ich bekam einen komplett neuen Rollstuhl und ging wieder in den Skatepark. Du musst den Rollstuhl vier oder fünf Jahre fahren, bis die Versicherung einen neuen bezahlt. Und ich hatte diesen gerade einmal neun Monate, bevor ich ihn schrottete.“

„Aber meine Eltern standen hinter mir und die Leute der Kirche besorgten mir ein weiteres Modell. Die Laufräder brachen, also beschafften meine Eltern mir Ersatz; sie unterstützten mich sehr in dieser Zeit.“

Wheelz catches up with fans during a Nitro Circus Live show - Photo: Nitro Circus
Wheelz trifft sich mit Fans während einer Nitro Circus Live Show – Foto: Nitro Circus

Generell veränderte sich mit den Jahren die Einstellung und Anerkennung der Gesellschaft gegenüber Rollstuhlfahrern und deren Leistungspotenzial zum Positiven. Trotzdem spielt „Wheelz“ in seiner ganz eigenen Liga. Es gab keine vergleichbaren Extremsportler mit Rollstuhl, die er bewundern konnte. Er konnte keine Poster aufhängen, keinen Vorbildern nacheifern – er selbst war der Pionier.

„Als ich anfing, sah ich nie jemanden anders“, erzählte er mir: „Es gab keine Athleten im Rollstuhl, die ich bewunderte. Also zog ich hauptsächlich meine Inspiration von den BMXern. Ich schaute zudem immer zu Tony Hawk und Travis Pastrana auf. Ich stellte mir vor, ‚man, es wäre so cool, ein professioneller Athlet zu sein, aber ich kann weder Skateboard noch Dirtbike fahren’“, sagt er.

Der Rollstuhl. Wheelz‘ Einstellung gegenüber dem Rollstuhl ist mehr als außergewöhnlich. Von Anfang an betont er, mit dem Rollstuhl unterwegs zu sein, nicht im Rollstuhl. Es ist ein Sportgerät, das er in Skateparks und Rampen fährt, kein normaler Rollstuhl.


„Ich arbeite mit Box Wheelchairs zusammen. Die Firma gehört einem Freund von mir, Mike Box, mit dem ich gemeinsam die Rollstühle entwerfe.“ Wheelz zieht in dem Moment seinen Rollstuhl zu sich heran und hebt ihn locker in die Luft. „Dieser hier ist für Parks gebaut, er eignet sich aber auch bestens für den täglichen Gebrauch. Er besteht aus leichtem Aluminium und hat spezielle Skaterollen montiert. Zusätzlich haben wir den Rollstuhl robuster gemacht, damit er den überdurchschnittlichen Belastungen standhält.“

Mit der Leidenschaft für Actionsport und der Unterstützung von seinen Engsten zog Wheelz weiter sein Ding durch und pushte die Limits mit seinem Rollstuhl stetig weiter. Mit nur 14 Jahren landete er den ersten Backflip mit seinem Rollstuhl – ein bahnbrechender Trick.

„Ich ging nach Woodward, wo sie Schnitzelgruben haben, um neue Sachen zu trainieren. Ich hatte gehörigen Respekt, aber nach ein paar Tagen mit einigen Versuchen schaffte ich schließlich den Backflip. Direkt danach realisierte ich: Alles ist möglich. Der Backflip öffnete neue Türen für mich!“

Natürlich machten diese Neuigkeiten im Zeitalter von Social Media und YouTube schnell die Runde. „Kurz nach meinem 18. Geburtstag bekam ich eine E-Mail von einem Producer von Nitro Circus. Er schrieb, dass sie gehört hätten, dass ich versuche, einen großen Kicker anzugehen, aber ich nirgendwo die Erlaubnis dafür bekam. Und weiter: ‚Hier bei Nitro Circus werden wir dich nicht daran hindern.’“ Wieder erstrahlt ein breites Grinsen auf dem Gesicht des Ausnahmeathleten, für den dieser Satz den Grundstein seiner professionellen Karriere zementierte.

„Wir sprangen mit einem Bus 50 Meter weit, das war extrem scary…“

Heute ist Wheelz ein fester Bestandteil der Nitro Circus Crew und erscheint auf den Liveshows sowie in den Filmen und Webisodes als einer der Protagonisten. Während der Nitro Circus Summer Shows ist Wheelz ein zentralel Highlight der Show. Natürlich passt das von Pastrana ins Leben gerufene Projekt perfekt zu Wheelz: eine unkonventionelle Familie, bei der es nur um Innovation, Progression und maximalen Spaß geht.

Beim Nitro Circus nimmt die Progession mehrere Formen an. Das können neue Tricks oder auch einfach verrückte Sachen sein. Hat Wheelz dort schon einmal den Druck verspürt, irgendetwas machen zu müssen?


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„Ich wurde schon in viele Stunts mit einbezogen – wie zum Beispiel der Sprung über 50 Meter mit dem Schulbus für unseren 3D-Film – das war extrem. Aber auf Rampen oder so mache ich meine Stunts lieber mit dem Rollstuhl, ich habe kein Lust mir ein Bein zu brechen“, merkt er ironisch an.

Auch Wheelz ist zunächst eingeschüchtert, wenn er am Inrun zu einer Megaramp steht. „Angst ist ein bedeutender Teil. Jedesmal, wenn ich oben auf der Nitro Ramp warte, spielt mein Herz verrückt, aber ich bin zuversichtlich. Ich hatte schon viele Gerhirnerschütterungen von misslungenen Sprüngen, doch ich habe mir noch nie einen Knochen gebrochen.“ Wheelz legt eine Pause ein, um auf den Tisch zu klopfen. „Was Verletzungen angeht, habe ich bisher sehr viel Glück gehabt. Verletzungen gehören dazu, doch sie können dich nicht aufhalten, den Sport weiter voranzutreiben. Man will sich nicht auf das Negative konzentrieren. Du willst dich nur auf das Positive, auf die Progression fokussieren.“

Den Sport zu pushen und kreativ zu sein – darum dreht sich alles in seiner Welt. Es geht nicht nur um die World’s First – auch wenn Wheelz mittlerweile einige vorzuweisen hat, bleibt er noch immer hungrig nach neuen Manövern. „Ein Trick, den ich wirklich irgendwann landen will, ist der Double Frontflip. Ich habe ihn schon einige Male probiert und hoffe, ich kann ihn bald landen.“ Doch er sieht es mehr als eine Mission, zu beweisen, dass solche Tricks mit dem Rollstuhl möglich sind.

„Es ist eine unglaubliche Möglichkeit, andere Leute zu beeinflussen und zu motivieren. Es ist aber auch irgendwie komisch, denn ich habe ja eigentlich einfach nur Spaß bei dem, was ich täglich mache. Ich verfolge meine Träume, meine Kindheitsträume, ein Pro zu sein und es darüber hinaus ziemlich cool, damit auch noch einen positiven Eindruck zu vermitteln.“

Für mich wird spätestens nach unserem Gespräch klar, dass „Wheelz“ ein Role Model ist, unabhängig davon, ob er sich als eines sieht oder nicht. Die Meinungen der Gesellschaft schwanken, wenn es darum geht, was Leute mit Behinderung erreichen können. Der vielbeschäftigte Mann macht sogar mittlerweile sogar Werbung für die Paralympics in Rio.

Die Wahrheit ist aber, dass er nicht normal gestrickt ist. Aber es hat überhaupt nichts mit seinem Rollstuhl zu tun. Aaron „Wheelz“ Fotheringham ist einzigartig, aus dem gleichen Grund, warum seine Helden Tony Hawk und Travis Pastrana zu Legenden geworden sind. Sie überwinden die Angst und machen Dinge, die von außen betrachtet fast unmöglich erscheinen.

Leute, die nicht nur höher fliegen als Normalsterbliche um sie herum und zudem die Zukunft ihres Sports entscheidend prägen und formen, sondern auch jeden Tag Blut und Schweiß für die Innovationen investieren, sind die wahren Superstars unserer Sportarten.

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